Porträt: Die Hüterin von Vadians Büchern
Porträt: Die Hüterin von Vadians Büchern
Rezia Krauer ist seit 2014 Leiterin der Forschungsstelle der Vadianischen Sammlung der Ortsbürgergemeinde St. Gallen. Inmitten von 500-jährigen Büchern und Briefen lernt sie viel über die evangelisch-reformierte Kirche – und über den Menschen Vadian.
Die Vadianische Sammlung basiert auf dem privaten Nachlass Vadians und dessen Studienbibliothek. Dank Schenkungen zählt die Sammlung mittlerweile weit über 10’000 Bücher und Briefe. Hier ist Rezia Krauer in ihrem Element: Die 34-jährige doktorierte in Allgemeiner Geschichte mit Schwerpunkt Spätmittelalter. Heute beschäftigt sie sich mit Handschriften aus dem 16. Jahrhundert. «Dank Originalquellen kann ich zu jeder Zeit in das Leben von damals eintauchen. Manchmal sind es Bücher, die während 300 Jahren ungelesen und unberührt blieben.» Ihre Begeisterung ist spürbar: «Ich bin immer auf der Suche nach neuen Geschichten. Diese muss ich aufspüren und herauskitzeln, um sie anschliessend vermittelnd und verwertbar erzählen zu können.»
Für die breite Öffentlichkeit
In ihrem Arbeitsalltag verbringt sie viel Zeit mit der Recherche von Bild- und Textmaterial und dem Katalogisieren von Quellen. In enger Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde werden gemeinsame Projektthemen gesucht und verarbeitet. Im Rahmen des Reformationsjubiläums arbeitet Rezia Krauer an einem Forschungsprojekt mit 4200 Briefen von und an Vadian oder an andere Reformatoren. «Über 400 Briefe sind noch gänzlich unbekannt und eine echte Fundgrube. Ich lerne Menschen kennen, die vor 500 Jahren gelebt haben. Wichtig ist, dass das Historische und das Theologische verständlich formuliert werden für die breite Öffentlichkeit.»
Twitter statt Facebook
Und wie hat sich ihr Bild von Vadian mittlerweile verändert? «Vadian ist noch immer nicht ganz fassbar, aber ich bin ihm nähergekommen. Ich bin fasziniert von seiner Vielseitigkeit: Er war Gelehrter auf vielen Gebieten und ein ‹Hardcore›-Politiker. Über 25 Jahre hat er eine grosse Rolle in der Politik ausgeübt; da muss man pragmatisch und diplomatisch vorgehen, Allianzen schmieden und ein grosses Netzwerk haben – und das ganz ohne Internet.» Heute würde Vadian, ist sie überzeugt, Twitter gegenüber Facebook bevorzugen.
Auch der Familienmensch kam zum Vorschein: In einem Brief von Vadian an Frau und Tochter beschrieb er seine Hilflosigkeit, als seine Enkelin schwer erkrankte. «Dank der Erzählungen in den Briefen kann ich mir die Situation lebhaft vorstellen. Auch war er in den 30er- und 40er-Jahren des 16. Jahrhunderts oft verzweifelt, wenn etwas nicht klappte. Und er konnte sich stark über Personen aufregen. Solche menschlichen Züge zu erkennen, tut mir auch gut.»
Mehr Information unter Ortsbürger